Dieser Beitrag entstand im Zuge des Besuchs von Leo R., einem guten Freund, der sich viel mit Gesellschaftsentwicklung beschäftigt.
Die Entwicklung von Gehorsam über Authentizität zur Profilizität, mit der wir uns hier beschäftigen, betrifft vor allem den modernen Westen.
Im Osten gibt es auch Entwicklungen Richtung Profilizität – wo man hineingeboren ist, was die Familie von einem erwartet, Gehorsam und Höflichkeitsnormen sind jedoch weiterhin vorherrschend. Evtl. könnte sich die östliche Kultur direkt zur Profilizität entwickeln. Ob und inwieweit sich diese dann von der westlichen unterscheiden wird, bleibt abzuwarten.
Die unterschiedlichen Formen der Identitätsbildung
Gehorsam, Standes-/Stammestreue, Konformität
Definition
Die Identität bildet sich hier durch die Umgebung. Vorrangig durch Eltern oder hierarchisch überstehende Personen. Man wird in seine Position hineingeboren. Es gibt viele Pflichten, zu übernehmende Rollen und Normen, an die man sich zu halten hat.
Herausforderung
Man muss sein Inneres anpassen, damit es zum Äußeren passt.
Beispiele
- Von den Eltern verheiratet werden
- Den gleichen Job wie die Eltern lernen oder lernen, was die Eltern wünschen
- Gebunden sein an den eigenen Stand (zB. Adeliger oder Bauer)
- Pflicht, die vorige Generation bei sich zuhause zu pflegen
Authentizität
Definition
Man kommt mit einer gewissen Persönlichkeit auf die Welt.
Messbar zB mit den Big 5 (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus). Sein Leben kann man nach seiner Persönlichkeit aufbauen.
Herausforderung
Man muss das Äußere an die innere Persönlichkeit anpassen.
Beispiele
- Man sucht einen Job, der zu den eigenen Stärken und Schwächen passt
- Eltern bestimmten nicht mehr über die Zukunft der Kinder sondern unterstützen sie, herauszufinden, was für sie das Richtige ist
Schwierigkeiten
Sich an einem einzelnen Vorbild zu orientieren funktioniert nicht mehr gut. Bisher wurde ein Vorbild gewählt oder bestimmt, und man hat sich in dieses “hineingepasst”. Man braucht nun mehrere (und vermehrt fiktive) Vorbilder, um sich von jedem ein bisschen etwas herauszunehmen.
Profilizität
Definition
Die Identität ist eine Rolle, in die man hineinschlüpft. Man kann diese Rolle selbst kreieren (Nähe zum Konstruktivismus) oder sich ein Vorbild suchen. Relevant ist die Rolle, die man nach außen zeigt. Diese ist anfangs oft zu groß gewählt, man versucht hineinzuwachsen – “Fake it till you make it!”
Herausforderung
Man muss sein Inneres anpassen, damit es zum Äußeren passt.
Beispiele
- Social-Media Profile, um sich zu präsentieren
- Impression-Management bei Bewerbungen
- Erfolg durch gute Werbung (zB Visitenkarten, Flyer)
- Searchword – Optimisation
- Entscheidungen anhand von der Gesamtbewertung der Allgemeinheit
Schwierigkeiten
Manche Betriebe (beispielsweise Universitäten) werden privatisiert bzw. müssen Gewinne erzielen, um erhalten zu werden oder überleben zu können. Diese werden unter diesem Zwang aber mitunter nicht erfolgreicher, weil sie bessere Ergebnisse liefern, sondern weil sie bessere Werbung machen. Sie werden nicht beliebter, weil ihre Abschlüsse eine bessere Qualität haben, sondern weil sie attraktive Leistungen bieten und mitunter durch Lobbyismus gut weitervermitteln können.
Erfolge werden vermehrt quantitativ gemessen. ZB mit Likes auf Social-Media-Plattformen oder durch die Anzahl an Quellen, in denen man zitiert wird. Dies muss nichts mit der Qualität zu tun haben.
Mögliche Gründe für die Entwicklung
Gesellschaften entwickeln sich. Der Westen hat sich von anfangs großen Gemeinschaften / Gruppen / Sippe entwickelt zu einem Fokus auf die Großfamilie, die zusammengewohnt hat.
Damit die große Gemeinschaft funktioniert hat, waren Rollen vorgegeben, die man übernehmen musste.
Individualisierung
Die weitere Entwicklung führte über die Kernfamilie (Eltern mit Kindern) teils noch weiter in Richtung Individualismus. Es gibt zunehmend Single-Haushälter und Menschen, die alleine altern oder in einem Heim, statt wie früher in der Großfamilie.
Durch die zunehmende Individualisierung wurde es möglich, sein Leben nach der eigenen Persönlichkeit auszurichten. Es wurden weniger Pflichten und mehr Rechte
Neuzeitliche Entwicklungen und Globalisierung
- Man ist zunehmend räumlich von anderen Menschen getrennt.
- Es finden vermehrt kurzfristige Kontakte statt.
- Die Kontakte sind oberflächlicher.
- Durch Globalisierung und Mobilisierung besteht der Zugang zu vielen/fernen Produkten/Angeboten.
Ein Profil ermöglicht es, sich über Ferne, bzw. ohne langen und tiefen Kontakt zu präsentieren.
Es ist nicht mehr so wichtig, ob man im persönlichen Kontakt authentisch ist, sondern welches Profil man sich aufbaut.
Der Kreis schließt sich – die Bipolarität des Lebens
Nachdem der Gehorsam hohe Konformität forderte, war die Authentizität das Gegenteil dazu. Bei der Profilizität herrscht teils ein Dualismus der beiden, da der Individualismus zunimmt, aber das Profil gewissen Trends folgen muss, damit man erfolgreicher ist.
Welches der Konstrukte ist “das Wahrhaftigste”?
Beim Gehorsam ist die Gruppe wahrhaftig, das Innere aber nicht, da es angepasst werden muss.
Bei der Authentizität, geht man wahrhaftig nach seinem Inneren, das Äußere ist es jedoch nicht und wird verändert.
Die Profilizität wird von Lacon und Zizek als hyperreal bezeichnet. Die Realität reicht nicht mehr aus, man muss sie aufbessern, um eine bessere Wirkung zu erzielen. – Gepimpte Realität.
Dadurch, dass die Gesellschaft (wie auch der einzelne Mensch) dauerhaft in einer Entwicklung / in Wandlung ist, liegt es nahe, dass diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist. “Das Wahrhaftigste” ist vermutlich von der gerade vorherrschenden Zeit sowie vom Entwicklungsstand des Individuums beeinflusst.